Der folgende Tag verlief zunächst deutlich angenehmer für Anja. Statt der massenweisen Pressung von Kleingetier stand ein Flirtkurs mit Sarah auf dem Programm.
Sarah schien direkt einem Femme-Fatale-Film entsprungen zu sein. Sie war bildschön von Kopf bis Fuß, und der Fakt, dass sie mit dem Wissen um ihre Schönheit sehr ironisch umzugehen pflegte, machte sie nur noch verführerischer.
Sarah und Anja verbrachten den halben Tag damit, in den Straßen von Paris Männer zu verführen. Dabei konnte Anja zum ersten Mal Gebrauch von echter Magie machen. Zwar waren die Sprüche, die Sarah ihr beibrachte, noch verhältnismäßig harmlos - einer brachte das Gegenüber dazu, Anja ohne Widerwehr in die Augen schauen zu müssen, ein anderer regte die Durchblutung in der Lendengegend an - für Anja waren sie aber das endgültige Betreten in eine Welt, die so gar nichts mehr mit ihrem alten Leben zu tun zu haben schien. Merkwürdig, dass sie die ganze Zeit über gar nicht an zu Hause gedacht hatte. Weder Freunde noch Verwandte vermisste. Alles was zählte, war nunmehr für sie, eine Schicksalsriesin zu werden. Weil sie es für eine gute Sache hielt. Weil sie ihrem Leben einen echten Sinn geben wollte. Und - aber diesen Gedanken wischte sie erschrocken wieder beiseite - weil ihr das Zertreten kleiner Menschen zunehmend verlockender und aufregender erschien. In Gedanken malte sie sich aus, wie sie die aberdutzend Männer, die sie an diesem schönen Sommertag verführte, in einen Hinterhalt locken, schrumpfen und in Grund und Boden stampfen würde. Wollust regte sich in ihr. O-Rens Warnungen, sie waren zumindest für einen Moment komplett bedeutungslos. Für ein paar Stunden gab sie sich gedanklich komplett ihren Machtphantasien hin. Und ahnte doch tief in ihrem Inneren, dass sie damit mit dem Feuer spielte.
Sarah und Anja hatten schnell Vertrauen zueinander gefunden. Sie hatten einen ähnlichen Humor, eine ähnlich unbekümmerte Art, offensichtliche Dinge auszusprechen, und einen durchaus ähnlichen Männergeschmack. Sie verbrachten den gesamten Abend damit, im Cafe zu sitzen und sich über ihre Vergangenheit und Gott und die Welt auszutauschen. Dabei schienen es beide aus unterschiedlichen Gründen zu vermeiden, das Thema "Pressung" anzusprechen.
Irgendwann meinte Sarah inmitten einer Diskussion über den besten Bondfilm:
"Ich mag dich. Und ich vertraue dir. Kannst du etwas für dich behalten?"
Anja, die geschmeichelt darüber war, dass Sarah so offenherzig ein Geheimnis zum Besten geben wollte, sagte:
"Klar. Schieß los!"
"Du darfst es aber keinem Menschen weiterverraten, schon gar nicht O-Ren oder gar Amara!"
"Nun sag schon!"
Sarah zögerte einen Moment. Dann atmete sie tief durch und begann zu erzählen:
"Du erinnerst dich noch an Regel Nummer 10, die ich dir heute genannt habe. Lasse nicht zu, dass du Gefühle für ein Zielobjekt entwickelst, die die Operation gefährden könnten!
Nun..." Sarah schluckte und schloss für einen Augenblick die Augen.
"...ich habe Regel Nummer 10 gebrochen."
Anja wurde hellhörig.
"Erzähl mir mehr!" sagte sie.
"Es war vor einem Jahr. Mein 23. Bernstein. Eigentlich ein Routineauftrag. Das Zielobjekt war der Sohn eines im Sterben liegenden Waffenhändlers. Von seiner Gesinnung wussten wir nicht viel, wollten aber kein Risiko eingehen, da er der letzte Sohn war und eine Pressung einen ganzen menschenverachtenden Ring zumindest mal gehörig ins Wanken gebracht hätte.
Es war nicht so leicht, an ihn ranzukommen, wie du dir vorstellen kannst. Noch schwieriger war es, sein Vertrauen zu wecken. Habe ihn kennengelernt. Festgestellt, dass er kein schlechter Mensch ist. Und als es endlich soweit war, da", Sarahs wunderschöne Augen bekamen ein feuchtes Schimmern, "da waren wir ein Paar."
Anja nickte. Sie hatte von Anfang an geahnt, wie die Geschichte verlaufen würde.
"Hast du ihn dann gepresst?"
"Ich habe es versucht, wirklich. Aber du kannst niemanden einfach so wie eine Raupe platttreten, wenn du dich kurz zuvor in ihn verliebt hast. Ich habe dann einen ihm sehr ähnlich sehenden Passanten breitgetrampelt und in Bernstein gegossen. Und ja, ich weiß, dass das nicht nett war. Wir waren nur so verzweifelt."
Anja nickte erneut. Es gab also nur noch eine Frage. Sie nahm Sarahs Hand und sah ihr fest in die Augen.
"Wo ist er?"
Sarah zögerte einen Moment. Sie schien zu überlegen, ob sie nicht einen riesengroßen Fehler begangen hatte. Dann fasste sie einen Entschluss.
Sie sah sich um. Niemand außer ihnen beiden in Sichtweite. Sie griff nach ihrem linken Fuß.
Zog ihren High Heel aus. Zeigte Anja den Inhalt.
An der Stelle, wo sonst eine kleine Ausbuchtung den freien Platz zwischen Ballen und Ferse polsterte, lag ein kleiner Mann. Er war nur in der Unterhose bekleidet, wohl, um die Hitze besser ertragen zu können. Bei ihm lag als einziger Gegenstand eine Sauerstoffflasche.
"Es ist okay, Liebling", meinte Sarah zärtlich. "Sie ist eine Freundin." Und zu Anja gerichtet sagte sie:
"Ich musste mir immer bessere Verstecke für ihn überlegen. Ich glaube, Amara und O-Ren ahnen etwas. Und wenn sie rausfinden würden, dass er noch am Leben ist, wäre sein Schicksal besiegelt."
Der kleine Mann blinzelte, sah Anja an. Sarah hatte wirklich einen extrem guten Männergeschmack, das musste Anja neidlos anerkennen.
"Hallo!" sagte der Winzling. "Ich bin Juan. Bitte verraten sie uns nicht!"
Sarah erschrak, als wäre ihr dieser Gedanke erst jetzt gekommen.
"Ja, Anja! Bitte, wir flehen dich an! Du darfst Amara und O-Ren nichts von Juan erzählen!"